Jul Dillier: wie Lustwandeln in einem Spiegelsaal

«Get Going!»-Portraitserie 2022

Jul Dillier, Flora Geiẞelbrecht und Bernhard Hadriga mit EI GEN KLANG ⎪ Foto ©Maria Frodl


Das Ei wird zum Wort, das Wort zu Klang und letztlich zu einem Kunstwerk namens «Ei.Gen.Klang». Erschaffen wurde die multisensorische Performance aus Klängen, Worten und Bildern von Jul Dillier, Flora Geißelbrecht und Bernhard Hadriga. Ein «Get Going!–Beitrag der FONDATION SUISA leistete dabei Geburtshilfe..

Jul Dillier ist Klangforscher. Sitzt man ihm gegenüber, blickt man in Augen, in denen die Neugier und die Lust in jeder Sekunde auszumachen sind. Die Welt als Spielplatz, als Ort für Abenteuer, der geradezu einlädt zum topographischen Wandern über Wort und Klang. Dass sich daraus auch philosophische Fragestellungen ergeben, versteht sich von selbst. «Ich wollte mich mit dem Ursprung oder dem Anfang beschäftigen, sowohl im musikalischen wie sprachlichen Sinn. Aber auch mit dem Anfang der Welt, dem Anfang des Lebens, dem Anfang der Menschheit», erklärt Dillier das Grundbedürfnis für dieses Projekt.

Dillier kommt aus einer äusserst sprachaffinen Familie aus dem Kanton Obwalden. «Mein Vater hat als Hörspiel-Regisseur gearbeitet, mein Bruder ist Buchhändler, meine Schwester Theaterpädagogin und meine Mutter Logopädin.» Er sei irgendwie das schwarze Schaf der Familie, lacht Dillier, hat er sich doch der Musik verschrieben, ist Pianist und Schlagzeuger geworden. Die Worte allerdings, sie sind geblieben und vor allem auch die Klänge, die in ihnen stecken.

Als Corona das Pendeln zwischen seiner Wahlheimat Wien und der Innerschweiz unterband, entschied er sich in Linz den Master in Jazz und improvisierter Musik zu machen. Und dort stiess er auf die Bratschistin, Vokalistin und Texterin Flora Geißelbrecht und den Gitarristen und Videokünstler Bernhard Hadriga, der neben seinen Musikstudien auch einem Studium der Mikrobiologie und Genetik nachgegangen ist. Als sie sich zusammensetzten, um einen Anfangspunkt für das Projekt auszumachen, war es Geißelbrecht, die mit der schlichten Aussage «Das Ei» den kreativen Prozess auslöste. «Es fühlte sich an wie ein Urknall und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Urknall-Theoretiker George Lemaître den Begriff vom Kosmischen Ei verwendete», erklärt Dillier.

Die Assoziationen nahmen in der Folge kein Ende: Das Ei – als Diphthong in unzähligen deutschen Wörtern verborgen – öffnete zahllose sprachliche, musikalische, aber auch philosophische und historische Räume, in denen sich die improvisatorischen Möglichkeiten anboten wie Lustwandeln in einem Spiegelsaal. Neben den vokalen Spielereien, mit denen die drei Bewunderer von Sprachakrobaten wie Ernst Jandl oder Kurt Schwitters zu jonglieren begannen, wurden auch andere Bereiche zum Thema: «Die Form des Eis, das Hühnerei als Lebensmittel, das Ei der Frau», sagt Geißelbrecht, «das Ei bietet ungemein viele Anknüpfungspunkte für verschiedenste Bedeutungsebenen.» Und Dillier fügt an: «Es ist auch der Ursprung unzähliger Schöpfungsmythen, mit denen wir uns beschäftigten.»

Bei einer kreativen Explosion wie dieser, läuft man Gefahr, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Das war allen bewusst. «Wir haben uns relativ früh eine rigorose Systematik aufgezwungen», erklärt Hadriga. «Der Beitrag der FONDATION SUISA hat es uns ermöglicht, eine Art Kunstlabor zu schaffen, in dem wir experimentieren und recherchieren können.» Und Dillier fügt hinzu: «Wir haben uns kompositorischen und improvisatorischen Techniken bedient, um uns zu überlegen, wie wir einen gewissen Aspekt umsetzen wollen, spielerisch oder als Narrativ, klanglich oder visuell.»

Als Lotse diente auch der Name des Stücks: «Ei.Gen.Klang», ein Wortspiel bestehend aus Ei, Gen und Klang, das in seiner Summe auch verdeutlicht, dass das Ei in seiner Form und Bedeutung stets Richtung Klang wandert. Auch war von Anfang an klar, dass das Projekt in eine einstündige Performance münden soll. Der dreidimensionale Klang- und Bühnenraum wurde bewusst um den Faktor Zeit erweitert, damit sich das Universum nicht unaufhaltsam ausdehnt. Und obwohl «Ei.Gen.Klang» im Dezember in Luzern und im Januar in Wien erfolgreich Premiere feierte, spielt das Trio weiter mit den Aggregatzuständen, auf dass sich das Stück unentwegt und immer weiter wandeln kann.

Rudolf Amstutz


juldillier.ch
instagram.com/ei.gen.klang
youtube.com/@EiGenKlang

arttv-Portrait
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JUL DILLIER

21.03.2022


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden. Im monatlichen Rhythmus stellen wir die acht Empfängerinnen und Empfänger der «Get Going!»-Vergabe 2022 einzeln vor.