Archiv der Kategorie: «Get Going!»

Hasan Nakhleh: Globale Grooves – für mehr Toleranz 

«Get Going!»-Portraitserie 2022

Hasan Nakhleh ⎥ Foto ©Hasan Nakhleh


Der Berner Hasan Nakhleh arbeitet mit Bruder Rami im Duo TootArd an einer Symbiose zwischen globaler Tanzmusik und arabischem Kulturerbe. Dank dem «Get Going!»-Beitrag findet er nun die Zeit und den Raum, sich dieser Balance zwischen Ost und West noch detaillierter anzunehmen.

Im Gespräch schwärmt Hasan Nakhleh immer wieder von Bern. Von ihrer Schönheit und von der Ruhe, die er hier gefunden hat. Nakhleh lebt seit 2014 in der Bundesstadt, die Liebe hat ihn in die Schweiz geführt. Seit 2021 besitzt er den Schweizer Pass. Das ist nicht unerheblich für einen, der in den Golanhöhen aufgewachsen ist. Die arabische Bevölkerung ist im von Israel annektierten Gebiet de facto staatenlos. «Golan», so Nakhleh, «ist eine Heimat, die keine ist und Bern wiederum ist ein Ort, der fernab meiner eigenen Heimat ist.»

Aus diesem Spannungsfeld heraus schöpft der 35-Jährige die Kreativität für seine Musik. Gemeinsam mit Bruder Rami musiziert er seit seiner Kindheit. Als sie dann eine Band gründeten, mit der sie in den örtlichen Clubs auftraten, nannten sie sich TootArd. Hasan lacht, weil der Name auf deutsch «Erdbeere» bedeutet. «Wir wollten nicht in den Verdacht geraten, dass wir in unseren Texten politische Botschaften verbreiten. Erdbeere erschien uns als Name harmlos genug.»

Drei Alben hat das Duo bereits veröffentlicht. Ihr zweites Werk nannten sie «Laisser passer» – so heisst das Schriftstück, das sie anstelle eines Passes erhielten. «Damit durften wir die Golanhöhen verlassen, aber wenn wir ins Ausland reisen wollten, zog dies stets mühsame Visa-Beantragungen nach sich.»

Als Schweizer kann er nun ohne Mühe reisen, wohin er will. Während Hasan die Ruhe Berns für seine Arbeit schätzt, ist Bruder Rami in seinem Heimatdorf geblieben. «Das hindert uns nicht an der Zusammenarbeit», erklärt er. Während Rami für die Beats zuständig ist, sorgt Hasan für den Rest – einschliesslich des Gesangs. Und wie «Migrant Birds», der Titel des letzten Albums andeutet, wollen sie ihre ansteckende Tanzmusik mit den hypnotischen Beats, den arabisch und orientalisch gefärbten Melodien und den poetisch angehauchten sozialkritischen Texten wie Zugvögel auf der Welt verbreiten.

«Was wir auf unserem letzten Album begonnen haben, möchte ich nun perfektionieren», erklärt er und meint damit eine globale Tanzmusik zu schaffen, die überall verstanden wird, die aber gleichzeitig die Herkunft nicht leugnet. Dank des «Get Going!»-Beitrages hat er nun unter anderem die Zeit seine analogen und digitalen Synthesizer neu zu tunen, damit er damit Vierteltöne spielen kann. «Diese Vierteltöne sind fester Bestandteil des arabischen Tonsystems. Aber sie sind auf Tasteninstrumenten nicht spielbar. Ich verwende deshalb Stimmboxen, die via «Midi» mit den Instrumenten kommunizieren. So lässt sich die Stimmung auf den Keyboards verändern.» Als Komponist wiederum sei die Herausforderung, die richtige Balance zu finden zwischen Ost und West, zwischen seiner kulturellen Heimat und der Welt, in der er nun lebt und arbeitet.

Hasan Nakhleh schildert die Erlebnisse, die er und sein Bruder an den Konzerten immer wieder erleben, egal ob in der Schweiz, in London, Toronto, Tokio oder Kairo. «Bei unseren Auftritten kommen Menschen verschiedenster Herkunft zusammen, um zu tanzen. Das fördert die Toleranz, weil Musik im Allgemeinen eine verbindende Wirkung entfaltet. Zudem bauen wir so auch gewisse Stereotypen ab, weil wir das arabische Kulturerbe in ein zeitgemässes musikalisches Kleid integrieren.»Der «Get Going!»-Beitrag sei dabei «die beste Form von Unterstützung, die man bekommen kann», betont er. «Wenn man Künstlerinnen und Künstlern die finanzielle Freiheit ermöglicht, wird immer ein Resultat entstehen.» Auch, dass mit dem Förderbeitrag kein konkretes Ergebnis verbunden ist, erachtet er als Motivation: «Es existiert kein äusserer Zwang. Ich muss also nicht. Also stellt sich die Frage: Will ich das?». Mit «Get Going!» – unterstreicht er zum Schluss – werde ihm als Künstler das Vertrauen geschenkt. Das sei etwas ganz und gar Aussergewöhnliches. «Dieser Aspekt allein ist für mich persönlich Pflicht genug, um etwas Gutes zu realisieren.»

Rudolf Amstutz


tootard.com


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden. Im monatlichen Rhythmus stellen wir die acht Empfängerinnen und Empfänger der «Get Going!»-Vergabe 2022 einzeln vor.

Simone Felber: tanzen und singen fürs Leben – mit und gegen den Tod

«Get Going!»-Portraitserie 2022

Simone Felber ⎥ Foto ©Christian Felber


Die Sängerin Simone Felber arbeitet in zahlreichen Projekten daran, die Schweizer Volksmusik gegenwartstauglich zu machen. Und mit dem ihr zugesprochenen «Get Going!»-Beitrag will sie nun auch den Totentanz zu neuem Leben erwecken.

Sie ist spät zur Volksmusik gekommen. Eigentlich erst während ihres Studiums an der Hochschule Musik – Luzern. Dort traf Simone Felber auf den Schwyzerörgeler Adrian Würsch und den Bassisten Pirmin Huber, mit denen sie heute das Trio «Simone Felbers iheimisch» bildet. Zuvor war sie mehrheitlich in der klassischen Musik tätig, vor allem ihr Mitwirken im Chor molto cantabile, der sich der zeitgenössischen Musik widmet, hat sie geprägt. Als Städterin, die die Natur liebt, entdeckte die Luzernerin in der Volksmusik etwas, das ihr ganz persönlich entgegenkam: «Wir streben in der Musik stets nach Perfektion. Doch während es in der Klassik um die perfekte Vorstellung von Klang geht, eröffnet der Jazz und die Volksmusik einem die Gelegenheit, seinen ganz eigenen Klang zu finden.»

Dieser eigene Klang manifestiert sich neben dem Trio «Simone Felbers heimisch» auch in zahlreichen anderen Projekten, so etwa im Frauen-Quartett «famm» oder als Chorleiterin des Chores «Echo vom Eierstock». Es geht der ausgebildeten Mezzosopranistin also nicht bloss darum, im nonverbalen Gesang und im Jodel einen ganz und gar zeitgemässen Ausdruck zu finden, sondern als 30-Jährige auch eine Haltung auszudrücken, die ihrer Generation entspricht. Die Schweiz von heute ist multikulturell, urban und sie steht vor gesellschaftlichen, sozialen, politischen Problemen, während sich gleichzeitig die Natur aufbäumt und die Orte des volkstümlichen Ursprungs klimatisch herausfordert. Felber will mit ihrer Musik ein Spiegel sein zu alldem, während sie die Volksmusik verdächtigt, sich zu oft dem Alltag zu entziehen. «Volksmusik erinnert mich bisweilen an eine Hochglanzbroschüre», sagt sie und fügt an: «Ich dagegen bevorzuge Recycling-Papier.»

Gemeinsam mit dem Jazzpianisten Lukas Gernet hat sie sich zu ihrem jüngsten Projekt «hedi drescht» zusammengefunden. Dort gehen sie gemeinsam der Frage nach «Was ist Heimat?» und vertonen ihre Bilder mit einem stilistischen Kaleidoskop zwischen Klassik, Jodel und Jazz. Auf der Bühne wird die Liedersammlung «äinigermasse dehäi» zu einer interdisziplinären audiovisuellen Performance in Zusammenarbeit mit dem Theaterkollektiv Fetter Vetter & Oma Hommage, dem Videokünstler Jules Claude Gisler und dem Theatermacher Stephan Q. Eberhard.

Für ihr «Get Going!»-Projekt geht Felber nun noch einen Schritt weiter und befasst sich mit dem Tod, der in jüngster Vergangenheit durch den Verlust nahestehender Menschen ganz nah an sie herangetreten ist. Dabei fasziniert sie besonders der Akt des Totentanzes. Doch wer tanzt diesen Tanz? In der Volksmusik existiert das «Tänzli»: Tanzen da die Lebenden, ohne einen Gedanken an den Tod zu verlieren oder um das Leben vor dem Tod zu feiern? Oder ist es der Tod, der tanzt, wie auf den barocken Motiven, die in Felbers Heimatstadt Luzern auf der Spreuerbrücke zu bewundern sind? Oder gar der Todgeweihte, der tanzend seine Reise in eine andere Welt begeht? Felber beschäftigt sich seit längerer Zeit mit diesen Fragen. «In vielen Kulturen ist das Leben und der Tod ein zirkulärer Vorgang, während wir unsere Existenz als lineares Ereignis betrachten», erklärt sie. «Ich möchte, dass das lähmende Gefühl, das uns angesichts des Todes überfällt, in einer Bewegung mündet, die uns wieder herausführen kann.» 

Wie dies am Ende aussehen wird, weiss sie im Detail noch nicht. «Ich stelle mir aber eher eine klangvisuelle Installation vor, die es erlaubt, dass die Menschen in einem intimen Rahmen sich ganz individuell mit dem Thema konfrontieren lassen können.» Der «Get Going!»-Beitrag – unterstreicht sie – gebe ihr die Freiheit und die Sicherheit dieses Projekt nun ohne Stress und ohne allzu grosse Kompromisse Realität werden zu lassen.

Rudolf Amstutz


Aktuelles Album: hedi drescht – «äinigermasse dehäi»
simonefelber.ch

Portrait arttv
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SIMONE FELBER

07.06.2023


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden. Im monatlichen Rhythmus stellen wir die acht Empfängerinnen und Empfänger der «Get Going!»-Vergabe 2022 einzeln vor.

2022: Acht «GET GOING!»-Beiträge vergeben

Die Ausschreibung für einen «Get Going!»-Beitrag 2022 löste grosses Echo aus. 225 Dossiers aus allen Landesteilen und allen Genres wurden eingereicht. Wir danken allen, die sich mit ihren Ideen manifestiert haben und der Jury die Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Am Ende wurden acht Projekte ausgewählt, die die enorme Vielfalt und Lebendigkeit der aktuellen Schweizer Musikszene wunderbar widerspiegeln. 



Die Empfänger:innen eines «Get Going!»-Beitrages 2022 in der Höhe von CHF 25’000.- sind:

KETY FUSCO

Kety_Fusco Foto by ©Sebastiano Piattini


Die Tessiner Harfenvirtuosin hat sich einen Namen gemacht mit ihren genre-übergreifenden Kompositionen, in denen sie stets aufs Neue die Möglichkeiten ihres Instrumentes auslotet und erweitert. Der «Get Going!»-Beitrag ermöglicht es ihr nun, an der Entwicklung eines Zusatzelementes für die akustische Harfe zu forschen. Mit dieser Erweiterung sollen die Grenzen des klanglichen Spektrums der Harfe überwunden werden. Damit werden neue Spielräume geschaffen für die Erweiterung der Harfe hin zu einer neuen hybriden Instrumentensprache.
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HASAN NAKHLEH (TootArd)

Hasan Nakhleh Foto by ©Jenan Shaker


Der Berner Hasan Nakhleh verfolgt mit seinem Projekt TootArd zwei Ziele: Zum einen experimentiert er mit den vielfältigen Möglichkeiten im Bereich der Rhythmen und des Tunings, zum anderen will er mit seinen Global Grooves und den arabischen Texten die Menschen auf den Tanzflächen dieser Welt zusammenführen. Der «Get Going!»-Beitrag ermöglicht es ihm nun, sich für das vierte TootArd-Album genügend Zeit zu nehmen, um seinen Sound weiterzuentwickeln. Unter anderen will er analoge und digitale Synthesizer mit Vierteltönen in unterschiedlichen Tonleitern neu programmieren.
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PORTRAIT


LOUIS JUCKER

Louis Jucker Foto by ©Augustin Rebetez


Singer/Songwriter Louis Jucker aus La Chaux-de-Fonds hat sich in den letzten Jahren einen völlig eigenständigen Kosmos erschaffen. Mit seinen sparsam intonierten, experimentellen Songs schafft er einen wohltuenden Anachronismus inmitten eines von Hektik getriebenen Alltags. Der «Get Going!»-Beitrag unterstützt ihn nun bei einem mehrjährigen Projekt, an dessen Ende der Bau einer Aufnahmemaschine steht, die ohne den Einsatz von Elektrizität funktionieren soll. Ziel ist es, auf den Zustand der Welt zu reagieren, indem lokale und handwerklich beherrschbare Produktionsmittel für Musik geschaffen werden sollen.
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CÉGIU

Cégiu Foto by ©Gian Marco Castelberg


Die Luzerner Musikerin, Produzentin und Komponistin Céline-Giulia Voser veröffentlichte bislang drei Soloalben als Cégiu, auf denen sie sich stets mit dem Erforschen neuer klanglicher und kompositorischer Wege befasst hat. Den «Get Going!»-Beitrag nutzt sie, um sich für ihr neues Werk «Coiled Continuum» eingehend mit der Thematik der psychoakustischen Wahrnehmung zu befassen. Ziel ist es, nicht nur Musik zu schaffen, die je nach Ort, Umfeld und Zeit anders klingt, sondern auch durch Schallmanipulation in den Hörer:innen ganz individuelle Empfindungen auszulösen imstande ist.
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PORTRAIT


SIMONE FELBER

Simone Felber Foto by ©Christian Felber


Die Luzerner Sängerin Simone Felber ist mit ihren Projekten «Simone Felbers Iheimisch», «hedi drescht» und «famm» eine der Hauptprotagonistinnen der Neuen Schweizer Volksmusik. Ihre musikalische Heimat ist der Grenzbereich zwischen Tradition und Moderne, zwischen klassischem Studium und ungehörter Innovation. In den letzten Jahren sah sich Felber durch den Verlust geliebter Menschen gezwungen, sich regelmässig mit dem Tod auseinanderzusetzen. Mit dem «Get Going!»-Beitrag kann sie sich nun eingehend mit ihrem Projekt befassen, der den klassischen Totentanz dem traditionellen Volksmusiktanz entgegenstellt. Ziel ist es einen eigenen Totentanz zu erschaffen, der in der Leichtigkeit des Tanzes eine neue Sicht auf den Tod erlaubt.
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PORTRAIT


MARIO BATKOVIC

Mario Batkovic Foto by ©Rob Lewis


Mario Batkovic gehört zu den virtuosesten und international bekanntesten Schweizer Komponisten und Musiker. Der Berner Akkordeonist ist an zahlreichen Projekten beteiligt, baut innovative Instrumente und experimentiert unentwegt im Spannungsfeld von Pop, Rock und zeitgenössischer Musik. Um neue Klangräume zu erkunden und zu erschaffen, sind unentwegtes Forschen, Entwickeln, Komponieren und Ausprobieren zentral für seine Arbeit. Dank des «Get Going!»-Beitrages erhält Mario Batkovic nun einen der wichtigsten Faktoren für die Kreativität geschenkt: Zeit!
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JUL DILLIER
(Jul Dillier / Flora Geiẞelbrecht / Bernhard Hadriga)

J. Dillier, F. Geißelbrecht, B. Hadriga Foto by ©Maria-Frodl


Der Obwaldner Jul Dillier bezeichnet sich selbst treffend als Klangwerker und Schalldichter. Der studierte Pianist und Perkussionist arbeitet an zahlreichen Projekten zwischen Jazz, Improvisation, Theater- und Hörspielmusik, Text, Performance und Klangkunst. Mit Hilfe des «Get Going!»-Beitrags soll nun «Ei Gen Klang» entstehen, eine einstündige, multisensorische Performance aus Klängen, Worten, Bildern und Geschmäckern, die dem Ursprung auf die Spur kommen will. Dies in Zusammenarbeit mit der Bratschistin, Vokalistin und Texterin Flora Geißelbrecht, sowie dem Gitarristen, Videokünstler und studierten Genetiker Bernhard Hadriga.
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KALEIDOSCOPE STRING QUARTET

Kaleidoscope String Quartet Foto by ©Benedek Horváth


Das Kaleidoscope String Quartet verweigert sich dem Korsett der klassischen Kammermusik und hat in den letzten Jahren in viele Richtungen Grenzüberschreitungen gewagt und damit auch an den unterschiedlichsten Festivals aufhorchen lassen (u.a. Cully Jazz, Murten Classics). Die Pandemie unterbrach ihr neustes Projekt «Five», das nun dank dem «Get Going!»-Beitrag wieder Fahrt aufnehmen kann. Mit den Bandoneon-Spieler Michael Zisman ist nicht nur ein fünftes Mitglied hinzugekommen, mit dem man sich weiter auf unerforschtem Gelände bewegen möchte. Mit dem neuen Bratschisten Vincent Brunel ist auch eine gewichtige personelle Änderung vollzogen worden, mit der sich «Five» fliessend anhand neuer kompositorischer Entwicklungen in ein Folgeprojekt verwandeln soll.
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RÉKA CSISZÉR⎪ «GET GOING!» 2020

«Get Going!»-Portraitserie 2020

Réka Csiszér ⎪ Foto ⓒMika Bajinski for VÍZ


Réka Csiszér ist Sängerin, Komponistin, Multiinstrumentalistin und Performerin. Klassisch an Piano, Violoncello und Querflöte ausgebildet, schloss sie 2017 ihr Studium in Jazzgesang an der ZhdK ab. Csiszér schlägt immer wieder spartenübergreifende Brücken mit Projekten im Theater- und Filmbereich. Nun möchte sie mit «VÍZ» ein ambitioniertes Soloprojekt realisieren. Ein interdisziplinäres Gesamtkunstwerk (Performance-Film-Ton), das in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen einen audiovisuellen Ort generiert, in dem Réka Csiszér nicht nur ihre stilistische Bandbreite von Ambient, Klassik, Avant-Folk und Elektronik auslotet, sondern gleichzeitig auch die Beziehung zu ihrer ungarischen Muttersprache und zu ihrentranssilvanischen Wurzeln vertiefen will.


rekacsiszer.com

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RÉKA CSISZÉR

05.11.2021


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden.

ISANDRO OJEDA-GARCÍA⎪ «GET GOING!» 2020

«Get Going!»-Portraitserie 2020

Isandro Ojeda-García ⎪ Foto ©Caio Licínio


Der Komponist und Musiker Isandro Ojeda-García verfolgt eine Solokarriere als audio-visueller Performer. Er ist auch im Insub Meta Orchestra (IMO) aktiv, sowie Musiker und künstlerischer Co-Direktor der Band TRES OJOS und des Festivals unfold-LAB, koproduziert in Zusammenarbeit mit der Universität Genf. Seit Jahren arbeitet der Genfer Künstler an interdisziplinären Projekten im Spannungsfeld von Komposition und Improvisation, von Musik und Videokunst, zusammen mit einer Vielzahl von Künstlern mit unterschiedlichem Hintergrund. Mit dem Grossprojekt «alt_A|V-LIB» stellt er unter anderem die Überwindung der klassischen Partitur auf technischer und künstlerischer Ebene dar, indem er ein alternatives, transversales und hybrides Kommunikationssystem zwischen Musikern unterschiedlicher Traditionen oder gar zwischen verschiedenen Künstlern der lebenden Kunst im Allgemeinen entwickelt.
isandroojedagarcia.tumblr.com

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ISANDRO OJEDA-GARCÍA

14.09.2021


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden.

OY: mit offenen Sinnen Städte durchwandern

Portraitserie «Get Going!» 2020

OY ⎥ Foto ©Paula Faraco



Joy Frempong und Marcel Blatti sind OY. Das Schweizer Duo mit Wahlheimat Berlin plant nachhaltig auf Tournee zu gehen und sich dabei auf Stadtwanderungen inspirieren zu lassen. Der «Get Going!»-Beitrag der FONDATION SUISA unterstützt sie bei ihrem Projekt «Messages from Walls».

Die Zürcher Sängerin Joy Frempong sprengt gemeinsam mit dem Berner Musiker Marcel Blatti im Duo OY bewusst musikalische Genres und verwandelt diese in grellbunten und inhaltlich engagierten Avant-Pop. Die Alben von OY sind stets konzeptionell und behandeln auf vielfältige Weise soziopolitische Themen – oft angereichert mit audiovisuellen Elementen oder Texten und Bildern in Buchform. Mit ihrem Projekt «Messages from Walls» will das in Berlin lebende Duo auf der kommenden Tournee im öffentlichen Raum Botschaften auf Mauern suchen, die das Potential haben, solche zu sprengen. Mit Hilfe von Partnerinnen und Partnern werden diese Inhalte visuell zu einem künstlerisch-politischen Statement verdichtet, das in der Folge in ein gleichnamiges Album und einen begleitenden Blog mündet.

Joy Frempong und Marcel Blatti, das letzte OY-Album «Space Diaspora» war sehr erfolgreich. Bald folgt die Fortsetzung. Was darf man erwarten?

Marcel: Wir haben unsere letzten zwei Alben musikalisch zusammengefasst. In Joys Texten gibt es eine Konstante durch diese Alben hindurch und dort knüpfen wir an und spinnen das ganze weiter.

.Joy: Die Platte widerspiegelt, was um uns herum geschieht. Es ist sowohl Post-Past wie auch Pre-Future (lacht). Es geht um Identität, Ungerechtigkeiten, aber transportiert auch positive Aspekte unserer Zeit.

Mit diesem Album geht ihr auf Tournee – und hier setzt euer «Get Going!»-Projekt ein.

Beide: Richtig!

Wie seid ihr auf dieses Projekt gekommen?

Marcel: Wir waren in den letzten Jahren sehr oft auf Tournee. Das ist ein großes Glück aber zuweilen auch sehr hektisch. Man reist an, spielt am selben Tag ein Konzert und am nächsten geht es direkt weiter. Dabei kam die Sehnsucht auf, länger an den jeweiligen Orten zu verweilen und dabei den Aufenthalt für Recherchen und das Schreiben von neuen Songs zu nutzen. Die Ideen, die dabei entstehen, sollen auch in einen Live-Blog münden – einem alternativen Fankontakt fernab der monopolisierten Facebook-Kanäle. Dieses «Slow-Touring» ist mit den üblichen Tour-Budgets aber nicht finanzierbar und hier kommt «Get Going!» ins Spiel.

Joy: Gleichzeitig gelingt es uns so auch, umweltfreundlicher reisen zu können. Tourneen zu absolvieren und dabei die zunehmende Klimaerwärmung nicht zu vergessen, ist für viele ein wichtiges Thema. Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Wir sind keine lokale Band, sondern stossen in ganz Europa auf Interesse. Man übt diesen Beruf auch aus, weil man sich gerne bewegt. Und Künstlerinnen und Künstler sollten die Möglichkeit zum kulturellen Austausch haben. Gleichzeitig stehen wir auch in der Pflicht, dies auf eine nachhaltigere Art und Weise zu realisieren.

Marcel: Allerdings nicht in der Form, dass alle nur noch zuhause sitzen und Konzerte streamen. Der Corona-Lockdown hat deutlich gezeigt, dass dies nicht funktioniert. Die Energie eines Konzertes muss man physisch erfahren können.

Eine zusätzliche Komponente eures Projektes ist die Auseinandersetzung mit Statements, die man auf urbanen Wänden findet.

Joy: Spaziert man durch Berlin, begegnet man viel Street Art und politischen Graffitis. Einige sind direkt an die Nachbarschaft gerichtet, andere sind philosophisch oder witzig. Da gibt es etwa einen Jogging-Platz, auf dem man Runde für Runde dem gesprayten Text: «Can’t keep running away» begegnet. Nicht alle Slogans funktionieren dann als Songtext, aber es ist eine andere Herangehensweise an eine Stadt und ihre Kultur, wenn man versucht, die Umgebung anhand solcher Aussagen zu erwandern.

Wall Hunting?

Marcel: (lacht) Genau. Es geht um die schöne Aufgabe, die eigenen Sinne offenzuhalten und um die Frage, wie das Gesehene anschliessend mit der eigenen Fantasie interagiert.

OY ist ja mehr als Musik. Die visuelle Umsetzung, die Kostüme, die begleitenden Bücher – das geht schon Richtung Gesamtkunstwerk. War das so geplant?

Marcel: Wir sind einfach breit interessiert. Und wenn man sein ganzes Herzblut in eine Band steckt, dann fliesst eben auch alles andere, das einen fasziniert, automatisch mit hinein. Wir hatten immer sehr gute Kontakte zu anderen Künsten und die sind über die Jahre gewachsen. Wir stecken viel Liebe in unsere Projekte – von der Bühnengestaltung bis hin zum Cover.

Auf dem OY-Blog lässt sich lesen: «There is hope our society could learn lessons». Optimismus in einer Welt, in der nichts zu klappen scheint?

Joy: Manchmal fühlt man sich machtlos gegenüber jenen, die sich Realisten nennen. Ich denke aber, dass ein Umbruch in die richtige Richtung im Gang ist. Manchmal sind Krisen Auslöser von Umbrüchen. Die Angst ist da, dass die Menschen nach Covid den «normalen» Zustand zurückhaben möchten. Wir aber wollen – wie viele andere auch – etwas verändern und nehmen diese Zäsur zum Anlass für eine grundlegende Veränderung.

Was haltet ihr von «Get Going!» als Fördermodell?

Marcel: Wir sind in der Schweiz bezüglich Kulturförderung fortschrittlich. Dennoch ist es an der Zeit, neue Formen zu finden, welche näher am Alltag der Kulturschaffenden dran sind. «Get Going!» ist somit nicht nur für uns ein großes Glück sondern auch als Format wegweisend.

Joy: Fördermittel sind meist an Produktionen gebunden. «Get Going!» dagegen ist offener und zum Beispiel als Unterstützung für den kreativen Prozess gedacht. Gerade bei uns ist die ganze Vorarbeit zu einem neuen Projekt sehr wichtig. «Get Going!» ist deshalb eine ungemein grosse Erleichterung. So, als täte sich am Horizont ein neues Fenster auf. Das ist extrem schön.

Interview: Rudolf Amstutz


oy-music.com

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OY

31.08.2021


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden.

Pirmin Huber: «Techno und Ländler liegen sehr nah beieinander»

Portraitserie «Get Going!» 2020

Pirmin Huber ⎪ Foto @GM Castelberg



Elektronisch bearbeitete Alltagsgeräusche gemeinsam mit Elementen der Ländlermusik zu einem neuen Hörerlebnis verschmelzen: Dies will der Kontrabassist und Komponist Pirmin Huber für sein neues Projekt erarbeiten und realisieren. Der «Get Going!»-Beitrag unterstützt ihn bei seinem Vorhaben.

Der Schwyzer Komponist und Kontrabassist Pirmin Huber experimentiert seit dem Abschluss seines Jazzstudiums (Schwerpunkt Komposition) an der Hochschule Luzern mit neuen Möglichkeiten, Schweizer Volksmusik mit anderen Genres zu neuen Sounds zu verbinden. Ob als Solist oder als Mitglied des «Ländlerorchesters», bei «Stereokulisse», «Ambäck» oder in der Formation «Gläuffig»: Huber kartographiert die Volksmusik neu und verbrüdert sie mit Techno, Jazz, Klassik oder Elektronik. Nun will Huber mit Hilfe elektronisch manipulierter Alltagsgeräusche und den volksmusikalischen Klängen seines Kontrabasses und anderer von ihm gespielten Instrument eine Art «field recording»-Forschung betreiben. Das Ganze soll in ein Werk münden, das unsere Hörgewohnheiten herausfordert und so die Welt in dieser aussergewöhnlichen Zeit widerspiegelt.

Pirmin Huber, wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden?

Pirmin Huber: Ich komme ursprünglich aus der Volksmusik, also aus der akustischen Musik, und bin immer mehr in die elektronische Musik hineingerutscht. Durch das Tüfteln mit neuen Aufnahmetechniken sind mir Ideen gekommen, die ich weiterentwickeln möchte. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und wir hatten dort auch eine Schreinerei. Die Geräusche der Säge wie alle anderen Klänge faszinierten mich und ich versuchte schon damals, sie mit meinen Musikinstrumenten nachzuspielen. Bei meinem «Get Going!»-Projekt gehe ich von den Klängen aus, die ich mit meinen Instrumenten, Kontrabass, Schwyzerörgeli, Gitarre, Klavier oder Glarner Zither schaffen kann und verbinde sie mit gesampleten Alltagsgeräuschen, die ich mit Hilfe der Elektronik verfremde. Seit meiner Jugend verfolgt mich die Frage: Wie lässt sich aus diesen Klängen Musik machen? Jetzt kann ich mir einige Tools leisten und erhalte damit die Möglichkeit, mich mit dem Projekt eingehend zu beschäftigen.

Was entsteht dabei zuerst? Die Klangsammlung und danach die Komposition oder ist es umgekehrt.

Es ist ein sowohl als auch, ein Miteinander beider Dinge. Bei der Arbeit eröffnen sich immer neue Möglichkeiten. Es ist ein Prozess. Es ist mir wichtig, dass ich mit meiner Musik eine ganz bestimmte Stimmung erzeuge. Das fertige Werk wird aus mehreren Stücken bestehen, die ineinanderfliessen oder zumindest aufeinander Bezug nehmen. Man könnte es als eine Art Suite bezeichnen.

Sie wandeln mit einer Leichtigkeit durch verschiedene Stile. Als Bassist sind Sie stets der Pulsgeber. Lassen sich aus dieser Position Verwandtschaften oder Schnittstellen ausmachen zwischen Volksmusik, Klassik, Jazz, Pop, Rock oder Techno?

Das kann sein. Auf jeden Fall liegen Techno und Ländler sehr nah beieinander. Dies mag von aussen schwer nachvollziehbar sein (lacht), aber die Energie, die beim Spielen entsteht, ist sowohl bei Techno wie bei der Ländlermusik, die ja auch Tanzmusik ist, dieselbe. Ich glaube, man muss erstmal beides gespielt haben, um diese Gemeinsamkeit zu erfahren. Ich versuche denn auch in meinem Projekt eine Art modernen Ländler mit Elektronik und Grooves zu schaffen.

Natur und Urbanität: Sind diese Reibungspunkte für Sie notwendige Inspiration?

Ich brauche beides. Sobald das eine nicht mehr da ist, fehlt mir etwas. Deshalb ist es wohl auch logisch, dass ich diese Pole zusammenfügen möchte. Ich habe seit längerer Zeit drei Standbeine: Volksmusik, zeitgenössische Musik und Techno. In meiner Empfindung sind sie aber eins.

Der «Get Going!»-Beitrag ist als Anstossfinanzierung gedacht und befreit von einem Resultat. Was halten Sie von diesem Fördermodell?

Ich finde es grossartig! Die so gewonnene Freiheit gibt einem Ansporn, etwas Grösseres dann wirklich auch durchziehen zu können. Die Idee für mein Projekt hatte ich ja schon seit Längerem, aber dann kamen immer wieder Dinge dazwischen. Und vieles hängt letztlich daran, ob man ein solches Projekt finanziell stemmen und auch stressfrei durchziehen kann. «Get Going!» erlaubt es mir, genau dies zu tun.

Interview: Rudolf Amstutz


pirminhuber.com

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PIRMIN HUBER

29.08.2021


Seit 2018 existiert «Get Going!» als Förderangebot der FONDATION SUISA. Mit dieser neuen Form eines Werkbeitrages werden kreative und künstlerische Prozesse finanziell angestossen, die sich ausserhalb der gängigen Kategorien befinden.

Das Duo Zwahlen/Bergeron will bislang Ungehörtes hör- und sichtbar machen

Portraitserie «Get Going!» 2019

Félix Bergeron ⎪ Foto ©Ludovic Schneiderovich



Auf der einen Seite die Jahrhunderte alte Tradition der Chormusik – auf der anderen die schier unendlichen Möglichkeiten elektronischer Musik. Jérémie Zwahlen und Félix Bergeron experimentieren im Spannungsfeld dieser zwei Pole, um etwas völlig Neues zu erschaffen. Der Get Going!-Beitrag unterstützt sie bei diesem Vorhaben.

Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Jérémie Zwahlen und Félix Bergeron, beide 33jährig, sitzen in einem Café in Lausanne und diskutieren über ihr Vorhaben, die lange Tradition der Chormusik mit Hilfe des elektronischen Experimentes neu zu definieren. Bergeron nutzt das Gespräch zu diesem Porträt gleich für ein Brainstorming. Präzise wie es sich für einen Schlagzeuger gehört, zählt er mit zunehmend komplexer werdender Rhythmik immer neue Möglichkeiten auf, wie die Verbindung von Alt und Neu, von Tradition und Avantgarde, umgesetzt werden könnte. Zwahlen hört mit stoischer Ruhe zu und ergänzt ab und zu mit pointierten Sätzen. Diese Art von Dialog scheint für ihn nichts Neues. «Félix ist wie eine ungemein starke Zigarette und ich bin der Superfilter, den man benutzt, um sie zu rauchen», meint Zwahlen und beide lachen.

Eigentlich besuchten die beiden bereits als Jugendliche die gleiche Schule in der Nähe von Lausanne, doch dann trennten sich die Wege. Bergeron trommelte bereits als Sechsjähriger, fand aber nie die endgültige Befriedigung bis er am Jazzfestival Willisau einen Soloauftritt von Lucas Niggli hörte. «Er benutzte neben den Drums auch Elektronik. Ich war völlig baff und wusste, das will ich auch!», erzählt Bergeron. Zwahlen dagegen wuchs in der Tradition der Blasmusik auf, in der er als Trompeter Mitglied einer Kapelle war, genau so wie sein Vater und Grossvater vor ihm. Die Mutter ihrerseits sang im Chor. «Im Gymnasium», so Zwahlen, «erzählten sie mir, ich wäre ein guter Musiklehrer und so begann ich dann meine Ausbildung.»

Beide besuchten sie die Haute Ecole de Musique Lausanne (HEMU), «aber ich studierte Jazz und Jérémie klassische Musik», erzählt Bergeron, «das waren zwei verschiedene Gebäude.» Was die beiden nicht wussten: Ihre Lebenspartnerinnen waren befreundet und so kam es, dass sie sich nach Jahren an einer Party wieder trafen. Als dann Zwahlen Bergeron bat, die Arbeit des von ihm geführten Chœur Auguste elektronisch zu unterstützen, kam ihnen die Idee einer Zusammenarbeit, die weit über das bislang Gewohnte und Gehörte hinausgehen sollte. «Natürlich gab es das schon, dass man Chor und Elektronik zusammenbrachte», sagt Bergeron, «aber da ersetzte man einfach die Orgel oder das Piano durch einen Synthesizer. So etwas interessiert uns nicht.»


Prädestiniert, um Neuland zu betreten sind beide, kratzen sie doch bereits in ihren individuellen Projekten stets an den stilistischen Grenzen und versuchen die musikalische Landschaft neu zu kartographieren. Zwahlen definiert mit seinen pointierten und konzeptionell ungewohnten Arrangements der Musik von Elvis Presley, Johnny Cash, Camille oder Queen nicht nur die choralen Gesetze neu, sondern betrachtet den Chor in seiner Summe als Körper: «Der Chor ist wie eine Skulptur, die atmet und die man bearbeiten kann. Und auch Félix arbeitet mit physisch erfahrbaren Vibrationen. Am Ende sollte man die Musik förmlich anfassen können.»

In der Tat ist Bergeron stark vom Skulpturalen beeinflusst. Neben seinen zahlreichen Projekten zwischen abstrakter Improvisation, Folk, Punk und Jazz, arbeitet er auch für das Theater und für Tanzcompagnien. In seinen «Brush Paintings» sorgt der Zufall für bildende Kunst, in dem er die Schlagzeugbesen mit Farbe versieht und die Becken mit Leinwänden. «In der spontanen Arbeit mit Elektronik lässt sich auch mit Willkürlichkeit arbeiten. Das interessiert mich. Ich sehe da unzählige Möglichkeiten, damit die traditionellen Formen der Chormusik aufzubrechen.»

Musik als Skulptur, die dem Publikum auch die Geheimnisse hinter deren Entstehung offenbaren soll. «Wir wollen, dass das Publikum sieht, was geschieht. Wie Komposition, Zufall, Arrangements und Improvisation sich gegenseitig beeinflussen. Unser Projekt soll über alle Sinne, die dem Publikum zur Verfügung stehen, erfahrbar werden», schildert Zwahlen den Ausgangspunkt und betont: «Meine Obsession besteht darin, dass ich sämtliche Arten von Musik so aufarbeiten möchte, dass sie allen Menschen Freude bereitet. Egal, ob es sich dabei um klassische Musik, Volksmusik, Jazz oder experimentelle Musik handelt.»

Es gäbe so viele musikalische, inhaltliche und visuelle Möglichkeiten, mit denen man bei einem solchen Projekt experimentieren könne, meinen beide und betonen, wie wichtig bei einem solchen Vorhaben die Faktoren Zeit und Geld seien. «Dank dem Beitrag von Get Going! ist es uns überhaupt erst möglich, Neuland in dieser Fülle zu betreten», strahlt Bergeron.

Jérémie Zwahlen und Félix Bergeron: Zwei von Musik Besessene, die ihre Begeisterung auch als Lehrer an der HEMU sowie der Ecole de jazz et musique actuelle (EJMA) in Lausanne und – im Falle Bergerons – zusätzlich an der Ecole Jeunesse & Musique in Blonay an nachkommende Generationen weitergeben. Gemeinsam formen sie die einzige Zigarette der Welt, die der Gesundheit nicht schadet. Im Gegenteil.

Rudolf Amstutz

arttv-Portrait
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ZWAHLEN / BERGERON

24.08.2020

Jessiquoi – Von der Freiheit, sich selber zu erfinden

Portraitserie «Get Going!» 2019

Jessiquoi ⎪ Foto ⓒManuel Lopez



Die Identitätssuche ist ihre treibende kreative Kraft. Damit kreiert Jessica Plattner alias Jessiquoi ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk. Sie sei «proppenvoll» mit Ideen, sagt die 31jährige Bernerin. Dank dem Get Going!-Beitrag steht der Verfolgung ihrer Ziele nichts mehr im Wege.

«Wenn ich einmal gross bin, dann möchte ich einen Konzertflügel auf der Bühne haben», sagt Jessica Plattner und lacht ob dem gewählten Ausdruck. Natürlich ist die 31jährige längst erwachsen, doch die Aussage deutet eben auch darauf hin, dass sie sich als Künstlerin auf einem Pfad der Weiterentwicklung sieht, der noch längst nicht abgeschlossen ist. Und dies obwohl sie mit ihrem Alter Ego Jessiquoi zu den beeindruckendsten Schweizer Acts gehört. Sie komponiert und produziert sich selber. Sie ist zuständig für das Visuelle und kreiert laufend phantastische Welten, in denen sich Jessiquoi mit Hilfe von mal brachialen, mal zärtlichen Electro-Klangwelten stets neu erfindet, neu definiert.

«Für mich ist Identität etwas Flüssiges», sagt Jessica und zitiert Drag Queen Ru Paul: «You’re born naked. The rest is drag.» Und fügt dann an: «Ich denke, jeder Mensch hat die Freiheit, sich neu zu erfinden. Es bedarf auch keiner Rechtfertigung, wenn ein Mensch sein Leben in eine völlig neue Richtung lenkt. Es ist wie in einem Video Game, wo jede und jeder für sich seinen eigenen Avatar bestimmen kann.» 

Die Identitätssuche als treibende kreative Kraft: Bei Jessica liegt dies auch in ihrer aussergewöhnlichen Biographie begründet. Sie wurde in Bern geboren. Kurz darauf wanderte die Familie nach Australien aus. Als sie im Teenager-Alter war, wurde ihrem Vater ein Job am Konservatorium in Bern angeboten und die Familie zog zurück in die Schweiz. Damit wurde auch der noch junge Lebenslauf in andere Bahnen gelenkt. Jessica wollte professionelle Tänzerin werden und besuchte dafür in Sidney bereits die notwendige Ausbildung. Zudem sprachen die Plattners zuhause ausschliesslich Englisch. «Wenn ich meine tänzerische Karriere hätte fortsetzen wollen, dann hätte ich nach Rotterdam oder Berlin gehen müssen. Aber ich wollte bei meiner Familie sein», sagt sie. «Ich hatte in Bern anfänglich das Gefühl Ausländerin zu sein und fühlte mich ausgegrenzt. Erst als ich Berndeutsch zu sprechen begann, waren plötzlich alle nett.» Die Sprache fiel ihr leicht, ihr Deutschlehrer gab ihr gar den Übernamen «Tape Recorder», «weil ich alles so perfekt wiedergeben konnte», lacht sie.

Die Suche nach der eigenen Identität in dieser fremden Heimat mündete dann – dem Tanz beraubt – in der Musik. «Wir hatten immer schon ein Klavier zuhause, aber das hatte ich früher nie angerührt. Ich hatte zwar mal kurz Unterricht, aber ich fand dies furchtbar. Doch plötzlich begann ich jeden Tag an eigenen Songs zu basteln», schildert sie ihre musikalischen Anfänge. 

Aber als wäre der Verlust der gewohnten Umgebung nicht bitter genug, erlitt Jessica vor sieben Jahren den wohl schmerzlichsten Schicksalsschlag, den man sich vorstellen kann. Ihr um zwei Jahre jüngerer Bruder starb. «Wir teilten uns alles und wurden von aussen oft gar als Zwillinge wahrgenommen», sagt sie und erzählt dann, wie der Bruder es war, der sie für die Welt der Video Games und Filmsoundtracks begeistern konnte.

Und genau dort, in jenen Welten, wo sich jeder neu erfinden kann, fand Jessica als Jessiquoi ihre neue Heimat. «Man könnte sagen, dass Jessiquoi eine Kunstfigur ist, aber in Wahrheit ist sie eigentlich eine andere Version von mir», sagt sie und ergänzt: «Die Figur kann auch Angst machen, weil Jessiquoi sich nicht in unserem fixen System der klaren Geschlechterrollen und nationalen Identitäten bewegt.»

Jetzt erzählt sie auf ihren Alben von eben diesen fremden Welten, in denen die Täler verseucht sind und die Menschen sich auf die Gipfel der Berge flüchten und wo Piloten in der Lage sind, Richtung einer besseren Existenz zu fliegen. Auf der Bühne setzt sie diese alternative Existenz ganz alleine um. Auf einem Holzwagen hat sie die elektronischen Instrumente und die Kommandozentrale für die visuellen Effekte und so betanzt und bespielt Jessiquoi als Alleinherrscherin die Bühne, die ein Ort der Selbstbestimmung und der ständigen Neupositionierung ist. Jessiqoui erschafft ein in seiner Kompromisslosigkeit beeindruckendes Gesamtkunstwerk, mit dem sie auch schon in Sevilla oder New York für Begeisterung sorgte.

Der Holzwagen – oder wie sie ihn nennt – das «Wägeli» ist wie auch die chinesische Harfe, die sie live spielt, eine Reminiszenz an die chinesische Kultur, zu der sie eine grosse Affinität besitzt. «In der Sprachschule konnte mich eine chinesische Freundin für ihre Kultur begeistern. Und einmal als ich in China war – es war drei Uhr morgens in Shanghai – wollte ich noch was essen und da war diese alte Frau mit ihrem Holzwagen, die darauf das Essen kochte. Dieser alte Wagen inmitten dieser Metropole: Das war ein Bild, das mich nie mehr los liess. Ich wollte diese Frau sein», erzählt sie und schmunzelt.

Selbstbestimmung ohne Wenn und Aber und die Freiheit, das eigene Ich im flüssigen Zustand zu erhalten, sieht Jessica als Notwendigkeit für ihre Kunst an. «Für mich ist die Hauptaufgabe von Künstlerinnen und Künstlern, die Zukunft unserer Zivilisation neu zu träumen oder sichtbar zu machen, weil diese die Welt und die Menschen um sich herum aufnehmen, analysieren, kritisieren und neu formulieren.»

Dank dem Get Going!-Beitrag steht dieser spannenden Entwicklung nichts im Wege. «Ich habe mich über Konzerte finanzieren müssen, darunter litt die Zeit, um an neuen Songs zu basteln. Jetzt habe ich auf einen Schlag mein Jahresbudget zur Verfügung», strahlt sie. Wohin die Reise sie letztlich führen wird, ist völlig offen: «Ich weiss nicht, was ich morgen für Musik machen werde. Sie kommt einfach. Aber ich werde mir aus marktstrategischen Gründen nie vorschreiben lassen, wie ich zu klingen habe. Ich arbeite an meiner Identität. Ich. Nur ich allein.»

Rudolf Amstutz


jessiquoi.com

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JESSIQUOI

18.08.2020

Anna Gosteli:  «Ich weiss nie, wo mich was hinführt»

Portraitserie «Get Going!» 2019

Anna Gosteli ⎪ Foto ©Manuel Vescoli



Trotz herausragender Ausbildung und kommerziellen Erfolgen in zahlreichen Bands: Zu oft brillierte Anna Gosteli im Hintergrund. Nun emanzipiert sich die 35jährige Solothurnerin und findet in der Summe ihrer zahlreichen Erfahrungen zu lang ersehnter musikalischer Identität. Der Get Going!-Beitrag 2019 sorgt dabei für die nötige finanzielle Unabhängigkeit.

Puzzleteile wie Mosaiksteine – lose verteilt schimmern sie in allen möglichen Farben und doch: Ein Gesamtbild fehlt. Für die Identität des fertigen Bildes fehlt die richtige Anordnung, der richtige Verlauf. «Von allem etwas und nichts richtig», umschreibt Anna Gosteli diesen Zustand, in dem sie sich Jahre befand. Und dies, obwohl sich diese einzelnen Puzzleteile sehen respektive hören lassen können: Mit sieben Jahren Klavierunterricht, danach Klarinette, später Schulchor. Zuhause im österreichischen Vorarlberg auch eine gitarrenspielende Mutter und ein Saxophon spielender Vater. «Ich kam schon als Kind mit allen möglichen Stilen in Kontakt, mit Evergreens und mit Schlager und immer war bei uns ein Instrument zur Hand, um zu musizieren.»

Mit 14 dann der Wechsel in die Schweiz. Wieder ein neuer Mosaikstein, auf den in regelmässigen Abständen immer neue Teile folgen. Mit 21 wird sie Mitglied des Basler ArtPop-Kollektivs The bianca Story. Einer steilen Karriere scheint nichts im Wege. Auftritte an der Deutschen Oper Berlin, Aufnahmen in den Abbey Road Studios in London, und doch: «Ich war zu Beginn das Mäuschen in der Band», sagt die 35jährige heute und fügt rasch an: «Dieses Empfinden hatte ich ganz persönlich, das lag nicht an meinen männlichen Kollegen. Die behandelten mich stets als gleichwertiges Mitglied.» Als äusserst talentierte Sängerin war Gosteli trotz internationalem Erfolg stets die zweite Stimme. Kombiniert mit ihrer zurückhaltenden Art hinterliess dieser Zustand in ihr ein Gefühl, dass da eigentlich mehr sein könnte.

Mit dem Besuch der Jazzschule in Basel begann die Emanzipation. Komposition bei Hans Feigenwinter, Gesang bei Lisette Spinnler und Harmonielehre bei Lester Menezes. Heute kann sie darüber lachen, aber «damals habe ich geweint, wenn Lester mich wieder genervt darauf aufmerksam gemacht hat, dass das, was ich mache, langweilig sei. Ich würde zu schön singen.» Letztlich entpuppte sich diese Hassliebe als wichtiger Motor, um aus den zugeordneten Rollen auszubrechen und auf die innere Stimme zu hören. Langsam aber sicher schienen sich die über Jahre gesammelten Puzzleteile zu ergänzen. Es wuchs die Gewissheit, dass sich dahinter womöglich ein grosses, in sich stimmiges Bild verbirgt.

Mit Fabian Chiquet von The bianca Story gründete sie Chiqanne. Gemeinsam kreieren sie wunderbare Popsongs mit Tiefgang. «Plötzlich schrieb ich Texte in deutscher Sprache und stand auf der Bühne ganz vorne.» Doch der entscheidende Schritt beim Zusammensetzen des Puzzles sollte sich erst mit «Dr Schnuu und sini Tierli» ergeben, mit einer Sammlung von Liedern für Kinder – und wichtig – auch für deren Eltern. Geplant war dies nicht, wie so Vieles in der abwechslungsreichen Karriere. «Ich weiss nie, wo mich was hinführt. Aber das ist ja auch irgendwie ein Konzept», lacht sie.

Es war an Weihnachten, als die Mutter eines heute sechsjährigen Sohnes, noch ein Geschenk für die Kinder ihrer Freunde brauchte. «Und weil ich damals arg in Geldnot war, habe ich halt ein Lied geschrieben und jedem Kind eine Strophe geschenkt.» Auf den Song übers «Federvieh» folgte der «Biber», den sie als Dank für den Berliner Wohnungsaufenthalt dem Filmkomponisten Biber Gullatz schenkte, mit dem sie für die Vertonung von Fernsehfilmen oft zusammenarbeitet. «Erst da kam mir der Gedanke, eine Sammlung von Kinderliedern zu schreiben.»

Es sind genau diese Lieder, hinter denen sich schon fast die Summe aller musikalischen Erfahrungen verbirgt, die Gosteli in ihrer Karriere gesammelt hat, und die darauf hindeuten, dass sich das Puzzle zu einem schillernden Werk fügen wird. Mit viel Schalk, aber auch mit ungemein psychologischem Tiefgang, zeigen diese Lieder Gostelis textliches Talent, während sich in der Musik – die sie gemeinsam mit Gitarristin Martina Stutz auf die Bühne bringt – die stilistische Reise vom Evergreen über den Schlager zum Popsong bis hin zum Jazz widerspiegelt.

«Ich sprudle zurzeit von Ideen», sagt Gosteli, die am Guggenheim in Liestal Gesang unterrichtet und für «helvetiarockt» den «Female Bandworkshop» in Co-Leitung mit Evelinn Trouble führt. Und last but not least nimmt sie in der neu gegründeten Formation Kid Empress nun Anlauf, das Puzzle ganz nah an dessen Vervollständigung zu bringen. «Endlich», sagt Gosteli, «habe ich drei musikalisch Gleichgesinnte. Wir treffen die Entscheidungen gemeinsam, und dies, ohne dabei Kompromisse eingehen zu müssen.» 

Der «Schnuu» und der stilübergreifende Sound von Kid Empress deuten bereits eindrücklich an, dass sich das anfängliche «Von allem etwas und nichts richtig» zu einer eigenständigen Identität verdichtet. «Der Get Going!-Beitrag gibt mir gerade zur richtigen Zeit die nötige finanzielle Luft, um mich in eben diese neuen kreativen Abenteuer stürzen zu können.» Und dann strahlt sie noch einmal über das ganze Gesicht.

Rudolf Amstutz

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ANNA GOSTELI

10.08.2020